Die Tech-Revolution in der Arztpraxis

April 28, 2024

Digitalisierung im Gesundheitswesen

Digitalisierung im Gesundheitswesen ist mehr als Doktor Google oder Online-Anmeldung für eine Arztvisite. Über automatisierte Labors, künstliche Intelligenz in der Pflege und Arztpraxen als Tech-Firmen.

Im Eingangsbereich warten Patientinnen und Patienten. In den Nischen gleich hinter dem Empfang wartet das medizinische Personal mit spitzen Nadeln und leeren Röhrchen. Ein Kind, das ist deutlich zu hören, wehrt sich gegen den Stich. Es ist einer von mehr als 400 Menschen, denen hier an einem durchschnittlichen Tag Blut abgenommen wird. Aber einer von vielen Tausenden, deren Blutproben hier in der Wiener Wagramer Straße im 22. Bezirk tagtäglich analysiert werden.

Auf das Ergebnis der Probe muss der junge Patient nicht lang warten. Denn zwei Stockwerke höher ist alles auf Effizienz getrimmt. Dass man sich immer noch in der Ordination von „Ihr Labor“ befindet, verraten allein die rot gefüllten Röhrchen, die hier durch ein Gewirr an Maschinen huschen. Vollautomatisiert. Denn die Hightech-Geräte entlang der sogenannten Straße wissen selbst, welche Tests an welchen Proben durchzuführen sind. Und sie suchen ganz nebenbei auch noch für jede Probe den schnellsten Weg durch das verzweigte Netz und generieren die Testergebnisse. Der Mensch ist Statist, muss nur im Notfall eingreifen. „Wir sind Pioniere der künstlichen Intelligenz in der Medizin“, sagt Georg Greiner, Leiter des Medizinisch-Diagnostischen Laboratoriums, zur „Presse am Sonntag“: „Was Sie an Technologie bei uns im Labor sehen, ist der Goldstandard.“

Hightech im Hintergrund

Digitalisierung und Gesundheitswesen: Das Begriffspaar meint mehr als die Auskunft von Doktor Google, der auch bei harmlosen Symptomen oft lebensbedrohliche Krankheiten ortet und den Ärzten das Leben eher erschwert als erleichtert. Es meint auch mehr als Online-Anmeldeformulare, die spätestens seit der Coronapandemie zum Standardrepertoire der österreichischen Arztpraxen gehören. Dass aber gerade die Labormedizin beim Einsatz neuer Technologien ganz vorn mit dabei ist, ist freilich kein Zufall: „Wo es um betriebswirtschaftliche Prozesse geht, etwa im Labor oder in der Lagerhaltung, sind Digitalisierung und Automatisierung in Österreich weit fortgeschritten“, sagt Thomas Czypionka, Gesundheitsökonom am Institut für Höhere Studien (IHS), zur „Presse am Sonntag“. Auch bei „Ihr Labor“ ist die Automatisierung betriebswirtschaftlich getrieben. Besser gesagt: erzwungen. „Der Kostendruck ist immens, auch weil die Kassen angesichts der steigenden Nachfrage nach Labormedizin verlangen, dass diese billiger wird“, sagt Greiner, seit 2023 Co-Geschäftsführer der Gruppe. „Wir müssen deshalb über Automatisierung, Digitalisierung und künstliche Intelligenz gehen.“ So sind etwa auch die Fahrzeuge, mit denen die Blutproben aus ganz Ostösterreich abgeholt werden, mit GPS versehen. Wenn eine Ordination frische Blutproben ins Labor schicken möchte, sucht der Algorithmus einen Boten, der gerade in der Nähe ist. Das spart Wege, Fahrzeit und damit auch Geld. In der Wagramer Straße sehen die Beschäftigten auf einem Bildschirm, wann welcher Bote eintreffen wird. Pausen legen sie in die Zwischenzeiten, wenn gerade keine Proben geliefert werden. Lang gibt es das Labor in der Wagramer Straße nicht mehr. Unweit entsteht eine neue, größere Anlage. Dort werden noch mehr Maschinen an die Straße angeschlossen sein, einige Spezialgeräte steuern die Proben aktuell nochnicht vollautomatisch an. Etwas weiter, in der Kürschnergasse in Wien Floridsdorf, betreibt die Konkurrenz ihr Labor. Wobei „Labors.at“ nicht nur Konkurrent etwa um Mitarbeiter ist, gegenüber Dritten sei man eine Interessengemeinschaft, so Johannes Bauer, Gesellschafter bei „Labors.at“. Technologisch stehe man einander um nichts nach, so der Mediziner zur „Presse am Sonntag“: „Viel mehr Effizienz geht nicht.“

Ein Arzt-Abo
Andernorts im Gesundheitssektor ist Effizienz vielfach noch ein Fremdwort. „Wenn es um Fragen wie die Digitalisierung von Patientenakten oder des Patientenkontakts geht, gibt es noch viel Potenzial“, erklärt Czypionka. Potenzial, das ein Tech-Start-up in Wien heben will. „Ich bin ein großer Freund der Digitalisierung im Gesundheitswesen“, sagt Felix Faltin, der Haelsi gemeinsam mit Christopher Pivec gegründet hat, zur „Presse am Sonntag“: „Aber nicht als Selbstzweck, sondern weil es viele Probleme lösen kann.“ Eines dieser Probleme sei eine systematische Intransparenz im Gesundheitswesen. So lasse sich etwa die Qualität von Diagnosen und Behandlungen verbessern, wenn Ärzte Einsicht in die Krankenhistorie ihrer Patienten erhalten. In Österreich gibt es mit Elga zwar eine elektronische Gesundheitsakte, doch befüllen längst nicht alle relevanten Stellen diese mit Informationen. Daten werden auch nicht in einem einheitlichen Format eingespeist, weshalb es sogenannte Large-Language-Modelle (LLM) bräuchte, um die Akte überhaupt auszuwerten. Einfacher wäre es, Daten bereits auswertbar in das System einzuspeisen. Bei Haelsi wird das gemacht. Die Ärztinnen und Ärzte arbeiten etwa allesamt in derselben Patientenakte. „Deshalb kommen wir auch darauf, wenn irgendwo inhaltlich nicht gut gearbeitet wird“, sagt Faltin. Das Unternehmen ist mit einem Wahlarztzentrum im zweiten Bezirk gestartet, jüngst wurde ein zweites im 18. Bezirk übernommen. Als Investment eingebracht hat den ersten Standort der Business Angel Hansi Hansmann. Von den dortigen Ärzten wurde Haelsi zunächst mit einer gehörigen Portion Skepsis empfangen, erzählt Faltin. So hat das Start-up eine Feedback-Kultur eingeführt, die vielen suspekt war. Denn Patienten sind nicht gewohnt, Feedback zu geben – und Ärzte nicht, welches zu bekommen. „Aber bald haben sie gemerkt, dass es den besser bewerteten Ärzten auch wirtschaftlich besser geht“, so der Gründer. Aber vor allem würden die Mediziner schätzen, dass Haelsi ihnen das wirtschaftliche Risiko abnimmt, das mit einer eigenen Ordination einhergeht. Die Ärzte zahlen einen Infrastrukturbeitrag, Haelsi übernimmt zum Beispiel die Patientenverwaltung. Für die Patienten wiederum werden nicht nur etwa Kostenrückerstattungsanträge automatisch an die jeweilige Kasse geschickt. Sie können auch Haelsi-Mitglieder werden, also eine Art Abo abschließen. Mitglieder bekommen einen Rabatt für ihre Arztbesuche, sie können aber etwa auch mit dem Pflegepersonal vor Ort chatten, um abzuklären, ob ein Arztbesuch überhaupt notwendig ist.

Die pflegende KI
Apropos Pflegepersonal. Solches ist in Österreich ohnehin schon knapp, mit Blick auf den demografischen Wandel ist der Mangel akut. Diesen Pflegenotstand will Oliver Wimmer beseitigen. Und zwar mit Digitalisierung und künstlicher Intelligenz. Wimmer ist Mitgründer des Grazer Start-ups HerzensApp, das den Pflegesektor effizienter machen will. Pflegekräfte müssen ihre Arbeit genau dokumentieren. Laut Studien frisst die Dokumentation mehr Zeit, als letztlich für die Arbeit mit den Patienten übrig bleibt. „Dazu kommt noch“, so Wimmer zur „Presse am Sonntag“, dass oft ausländische Pflegekräfte ihre Arbeit auf Deutsch dokumentieren müssen.“ Die Grazer haben Large-Language-Modelle von großen Tech-Firmen so adaptiert, dass das System etwa Formulare automatisch ausfüllt, wenn die Pflegekräfte ihre Arbeit diktieren. In Muttersprache. „Dank unserer KI kann eine Pflegekraft in ihrer Muttersprache erfassen, was sie gemacht hat. Das bringt eine enorme Steigerung der Dokumentationsqualität“, erklärt Wimmer. Interaktion verbessern. Ziel ist laut Wimmer, die Interaktion zwischen allen Stakeholdern zu verbessern: etwa zwischen Patienten und Pflegekräften oder zwischen Familienangehörigen und Pflegeagenturen. Damit verfolgen die Grazer letztlich dasselbe Ziel wie auch Haelsi oder die beiden hochautomatisierten Wiener Laboratorien. Doch alle Genannten attestieren dem Gesundheitswesen auch eine gewisse Innovationsskepsis. Dabei birgt die Digitalisierung „viele Möglichkeiten, die Produktivität von medizinischem Personal zu steigern“, so Experte Czypionka. Perspektivisch wird der Sektor angesichts einer alternden Gesellschaft, der auch medizinische Fachkräfte fehlen, nicht um mehr Digitalisierung herumkommen

Die Presse am Sonntag (Bild: Georg Greiner (l.) und Johannes Bauer sind Konkurrenten und Partner/Clemens Fabry